Nachdem wir in diesem absurden Russland angekommen sind und die erste Woche ohne Frostbeulen oder Erfrierungen überstanden haben, haben wir erste Kontakte mit der lokalen Mafia geschlossen. Ja.
Ein Spaziergang durch unbekannte Orte führt oft dazu, dass man seinen eignen Horizont permanent dehnt. Obwohl man sich an einem solchen Ort zur gleichen Zeit unsicher und angreifbar fühlt, da einem die möglichen Gefahren noch unbekannt sind, so sind sie gleichermaßen komisch attraktiv, weil sie Geheimnisse besitzen, die jenen vorbehalten sind, die sich aus ihrer „Komfortzone“ herauswagen. Könnte man sich vorstellen, eine unbedeutende und altmodisch aussehende Bar zu seinen Favoriten zu zählen oder neue und interessante Leute im routinierten Alltagsleben auf der Straße anzuquatschen? Kaum, denn es besteht ja an sich kein Grund dazu. Allerdings führt das zu einem Austrocknen der Inputs zum Gehirn, was wiederum in einem allmählichen Desinteresse an der Welt und an ihren zahllosen versteckten Wundern resultiert.
Nehmen wir dieses (zufällige) Wirtshaus zum Beispiel!
Eine ganz klassische Bar für Einheimische in einem der Randbezirke Kazans. Von Außen begrüßt sie kaum Passanten. In ihrem 90s/post-Sowjet Stil hat sie eine Zahl an Alkoholikern aufgenommen und geschaffen, die vermutlich vergleichbar ist mit der Anzahl an Geburten in diesem Bezirk innerhalb der letzten 30 Jahre. Obwohl das Äußere etwas anderes vermuten lässt, so soll der Wert von diesem besonderen Ort zu keinem Zeitpunkt unterschätzt werden. Die plötzliche Einführung eines fremden Elementes kann sehr unterschiedliche Reaktionen bewirken: Eine davon könnte die spontane Entscheidung sein, den Fremden die persönliche Perspektive auf die Heimat zu zeigen.
Da Ludwig und ich uns bereits aus unser Komfortzone herausbewegt haben und uns mit neuen Lebensbedingungen auseinandergesetzt haben, versuchen wir zudem immerzu, unseren eigenen Horizont zu verschieben – viele Projekte wurden schon ansatzweise angeschnitten, Reisen geplant, Zusammenarbeiten mit neuen Freunden und ortsansässigen „Partnern“ ausgedacht. Um uns besser mit unserer Gegend vertraut zu machen, haben wir beschlossen, uns zusammen mit der italienischen Studentin die schicksalsträchtige Bar NEO anzuschauen (aus Anonymitätsgründen werden wir sie von nun an Maria nennen). Warum ausgerechnet NEO? Zum einen deshalb, weil die Bedeutung des Wortes auf etwas Neues hindeutet, auf den Anfang einer wahrhaft russischen Erfahrung, die mancherlei Stereotype erfüllt hat. Auf der anderen Seite könnte man eine Referenz auf den Filmcharakter Neo aus Matrix vermuten; er hat sich aus einer angenehmen Illusion verabschiedet, um, nach einer Phase des Schocks und Terrors, die Realität zu akzeptieren und letztlich seinen Platz darin einzunehmen (die Schwellenphase, oder auch Liminalität, hat ihn die Wahrheit erkennen lassen). Nachdem wir eine halbe Flasche Wodka im Wohnheim geleert hatten, haben wir uns sogleich eine weitere in der Bar bestellt. Die zunächst argwöhnischen Blicke haben sich in wohlwollende verwandelt, sobald wir angefangen haben auf Russisch zu reden.
So sah die Bar von innen aus: Die Dekoration war überaus überschaubar. An den Wänden hingen einige klassische russische Gemälde, leider in schlechter gedruckt in schlechter Qualität. Die Preise waren vergleichbar mit jenen im Supermarkt (i.e. ungefähr 400 Rubel für ½ l von einem guten Wodka). Die angebotenen Waren waren ganz klassisch: die üblichen Alkohol und Schnäpse, billige Biere, Snacks und plastifizierter, getrockneter Fisch. Alle Gäste (bis auf die eine Frau Natascha im mittleren Alter ausnahmslos Männer) haben Karten um Geld gespielt, bis auf den guten Evgenij, der alleine vor sich hin gedöst hat, weiterhin gab es noch ein dubioses Hinterzimmer, mit regem Begängnis, bis dahin sind wir ‘leider’ nich nicht vorgedrungen.
Wir haben uns sofort gut verstanden. Ich wurde „Puschkin“ genannt, wir haben gemeinsam Karten gespielt und dabei genüsslich Wodka getrunken, Bier, und später noch billigen Cognac (sehr schlechte Idee) . Nach ein paar Drinks wurden wir ungehaltener und schnell hat sich herausgestellt, dass wir mit Mitgliedern der lokalen Mafia tranken. Die prominenteste Person unter ihnen war natürlich die gastfreundliche Natascha. Die Gasfreundschaftlichkeit stammte aber auch daher, dass sie für keinen der Drinks Geld ausgeben musste und in ihrer Macht, Leute herumzukommandieren, ungebremst war. Aber was anderes hätte man erwartet von der Frau, dessen Vater zufällig „Besitzer der Krim ist“. Urlaub in der Ukraine garantiert! (Gott, für diesen Kommentar werde ich sicherlich gelyncht…). Nachdem wir herausgefunden haben, dass Natascha bereits mit ihrem 5. Kind schwanger war, haben wir ihr vorgeschlagen vielleicht ganz mit dem Rauchen aufzuhören, als nur auf Marlboro Light zu wechseln. Andererseits wäre das nur ein Tropfen auf den heißen Stein gewesen… immerhin hat sie den ganzen Abend lang Kaffee getrunken und sich mit Hochprozentigem tüchtig die Kante gegeben (auch Drogen waren ihrerseits im Spiel, wir schafften es irgendwie dankend abzulehnen). Irgendwann werden meine Erinnerungen undurchsichtig… aber mit vereinten mentalen Kräften, haben wir es dann geschafft ein einigermaßen klares Licht auf die dunklen Stellen zu scheinen: Die ganze Nacht lang sind wir in einem Taxi durch die verschlafene Stadt gefahren, immerzu auf der Suche nach dem schönsten Blumenstrauß Kazans, um damit das Grab von Nataschas Mutter zu schmücken. Ein normaler Montag Abend also. Hin und wieder haben wir irgendwo ein Päuschen eingelegt, um uns mit Drinks und Essen zu versorgen (möglicherweise auch ein Mal in einem georgischen Restaurant, aber daran kann sich niemand genau erinnern, jedenfalls wurden wir jedes mal eingeladen, Riesen-Buffet, fast nichts angerührt, um dann im nächsten Restaurant/Drecksloch wieder eine Großbestellung aufzugeben).
Mein Gedächtnis ist erst bei Sonnenaufgang komplett zurückgekehrt. Als die ersten Lichtstrahlen das Dunkel der Nacht vertrieben, haben wir uns dazu entscheiden Natascha mitsamt ihres Mafiabusiness alleine zu lassen und zum Wohnheim zurückzukehren. Die Wächter haben sich sicherlich sehr gefreut meinen und Ludwigs Namen aufzuschreiben (erste von 3 Verwarnungen) als wir zurück gekrochen kamen – ich bin davon überzeugt, dass man den gütigen Herren und Damen der Nachtwache überhaupt erstmals einen Sinn im Leben gibt, wenn man versucht in einem solchen Zustand durch das bewachte Tor zu treten. Natürlich haben sie es nicht als nötig empfunden, auch noch Marias Namen aufzuschreiben. Als wir dann aufgewacht sind, haben wir sofort damit angefangen, die einzelnen Gedächtnisfetzen aneinanderzureihen.
Mit den neugewonnenen Kontakten und dem Wissen, dass ein wahrhaft russisches Abenteuer zu jedem Zeitpunkt losbrechen kann, garantieren wir unserer teurer Leserschaft, dass die Qualität des Blogs weiterhin ansteigen wird.
Mehr Artikel folgen sehr bald!